Da ich vermute, dass Sie hier als Erstes aufschlagen, etwas Wichtiges vorweg: Ich will einem Vorurteil begegnen. Das Vorurteil lautet: Ein Lektor greift in mein urureigenstes kreatives Werk, mein Buch, ein und ändert es nach irgendwelchen Launen, Vorlieben oder gar Marktbedingungen. Falsch!
Richtig ist: Ein Lektor nimmt Sie bei der Hand und weist Sie auf etwas hin. Punkt. Die Entscheidung, was Sie aus des Lektors Hinweisen und Anmerkungen machen, liegt allein bei Ihnen. Genau so ist es! Und nur so … Insofern ist das Zitat des sehr geschätzten Stephen King, das Sie auf dieser Seite gelesen haben, in meinen Augen Humbug.
Und nun zum Unterschied zwischen einem Korrektorat und einem Lektorat. Traut sich selten jemand zu fragen, aber alle wollen es wissen. Ich will ihn (den Unterschied) kurz erklären.
Der Lektor schnappt sich Ihr Manuskript und liest es mit einer dauerfragenden Grundhaltung. Er fragt sich: Interessiert das den Leser? Kapiert das der Leser? Kann das stimmen? Verstehe ich die Figuren? Kommt ein Ereignis zu früh? Zu spät? Würde ich, zahlte ich für dieses Buch, wirklich so viel Geld ausgeben? Was kann man besser machen? Muss diese Figur wirklich so strunzdumm sein? Glaubt der Autor wirklich, dass das mit der digitalen Übertragung laktosefreier H-Milch funktioniert, als sei die Milch ein Fax? Will die Autorin mit diesem schiefsten aller schiefen Sprachbilder tatsächlich an die Öffentlichkeit? War die S-Bahn nicht zehn Seiten vorher noch die U-Bahn – und gibt es in Augsburg wirklich beide Verkehrssysteme? Und warum heißen zwei Personen, Männlein und Weiblein, Alex?
Der Lektor schaut aber auch, ob Sie sprachlich auf der Höhe der Zeit sind. Wenn Sie dazu neigen, allzu barock zu schreiben, hier noch ein Adjektiv reinzuquetschen, dort einen weißen Schimmel wiehern zu lassen, hier den Blauschimmelkäse allzu blau schimmeln zu lassen, greift der Lektor zum Rotstift in Form der Löschtaste. Das Gelöschte sehen Sie. Jeden veränderten Satz sehen Sie in all seinen Veränderungen. Jedes frische Komma sehen Sie – und mehr noch: Jeden der Änderungsvorschläge (ja, es sind Vorschläge, und ein Vorschlag ist ein Vorschlag, und eben nur der Vorschlag Ihres Dienstleisters!) müssen Sie annehmen oder ablehnen.
Denn der Lektor quält Sie. Also nicht direkt. Er bringt Sie – erinnern Sie sich an das Zitat von Wolf Schneider? – dazu, sich noch einmal intensiv mit Ihrem Werk zu befassen. Sie bezweifeln den Sinn dieser Qual? Nun denn, wollen Sie wirklich mit einem Werk an die Öffentlichkeit, bei dem Sie sich nicht jede nur erdenkliche Mühe gegeben haben, es perfekt zu machen? Dazu gehören auch: stundenlanges Umfriemeln eines Kapitels; Streichen von Personen, auch wenn sie Ihnen liebgeworden sind; Abschied von Formulierungen, die Sie für stilbildend halten, jeder andere aber für manieriert; Telefonate mit mir über Ihre Eigenart, Zitate mit Zitat-erläuternden Wurmfortsätzen auslaufen zu lassen: „Ich vermöble Sie derart, dass Sie nicht mehr wissen, wo unten und oben ist“, drohte er seinem Nebenbuhler blutige Prügel an, die den mehr als eine Nacht in die Obhut der örtlichen, wie immer völlig überforderten und nur zum Teil ausgebildeten Ambulanz bringen würden.
Und noch einmal: Ich schlage vor. Mehr nicht. Der Lektor lebt von seiner Professionalität, ob Ihnen das passt oder nicht. Er stellt die Fragen zum Manuskript – im Manuskript. Und Sie müssen alle Fragen beantworten und auf die Vorschläge reagieren. Wenn Sie das nicht tun, selbst schuld! Nun, Sie müssen Fragen in der Tat nicht beantworten, wenn Ihnen das zu blöd ist; es gibt unter Word die Option Alle Änderungen akzeptieren …
Was auch immer Sie tun: Der Entscheider sind Sie. Sie schreiben das Buch. Sie sollten sich meine Fragen und Anmerkungen ansehen. Ich zwinge Ihnen nichts auf. Und damit ist eines schon klar: Nie im Leben würde ich – siehe oben – in Ihr Buch so eingreifen, dass Sie sich fragen, ob das noch Ihr Buch ist. Ich mosere nicht grundsätzlich an Ihrem Stil und Ihrer Denkart herum; ich biege Sie nicht auf irgendetwas oder gar auf Konvention. Ich mache lediglich deutlich aufmerksam.
Aber wenn Sie einen Menschen morgens in ein Flugzeug nach Madrid steigen lassen – sagen wir: von Mönchengladbach aus –, dann überprüfe ich, ob es ein Flugzeug von Düsseldorf (das wäre der Flughafen zu Mönchengladbach) nach Madrid gibt. Und wenn Sie denselben Menschen in Madrid wild morden, Verabredungen treffen, eine Affäre haben, Tapas essen lassen, dann frage ich Sie auch, ob derselbe Mensch abends um 18 Uhr einen Termin in Helsinki haben kann. Wenn Sie dann meinen, das ginge – dann geht es halt, jedenfalls in Ihrem Werk. Sie sehen schon, Sie können den Lektor als Ihren Feind betrachten – oder als Hilfestellung. Mal ehrlich, wollen Sie einen Feind honorieren? Wollen Sie mit einem Feind öfter telefonieren – wenn er meint, Grundsätzliches zum Text sagen zu müssen?
Den Korrektor kümmert das alles nicht. Den Korrektor müssen Sie sich als einen Menschen vorstellen, der abends beim Einbetten den Duden herzt und ihn morgens küsst. Für ihn ist der Duden die Bibel (dieses schiefe Sprachbild, für Sie konstruiert, würde der Lektor bemängeln). Während der Lektor eher (das Wort ist zu groß!) künstlerisch arbeitet, ist der Korrektor Sachwalter der Korrektheit. Ihn kümmern keine schiefen Sätze oder falsch gebuchte Reisen nach Madrid – er achtet nur auf die grammatische und rechtschreiberische Einwandfreiheit. Er tilgt Fehler. Er achtet darauf, dass Stephan immer Stephan heißt und nicht Stefan oder Stepfan. Er setzt Kommata und wirft sie raus, er macht aus Maniren Manieren, aus einem New York City Center Zubringerbus den durchgekoppelten New-York-City-Center-Zubringerbus und aus Rythmus den rechten Rhythmus. Und jedes sie in der Anrede ist nach des Korrektors Arbeit ein Sie.
Aktualisiert am 23. Juli 2021, ML